Deutscher Bundestag, Drucksache 14/... 14. Wahlperiode 4. Juni 2002
Antrag der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Antisemitismus ächten - Zusammenhalt in Deutschland stärken
Der Bundestag wolle beschließen:
1. Der Deutsche Bundestag fordert alle Bürgerinnen und Bürger auf, die Erinnerung an die nationalsozialistische Diktatur und den Holocaust nicht verblassen zu lassen. Notwendig ist es, mehr Wissen über Rassismus und Diktatur sowie über den außerordentlichen Beitrag zu vermitteln, den jüdische Bürgerinnen und Bürger in Geschichte und Gegenwart für Deutschland geleistet haben und leisten. Familien, Schulen, Jugend- und Weiterbildungseinrichtungen sind aufgefordert, in diesem Sinne tätig zu werden bzw. zu bleiben.
2. Die von Deutschland ausgegangene mörderische Judenverfolgung war auch ein Akt der Selbstzerstörung deutscher Zivilisation.
Jüdische Deutsche waren selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft. In der Vergangenheit wurde die Entwicklung von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben in Deutschland und Europa auch von jüdischen Bürgern gestaltet, getragen und geprägt. Wir alle sind aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Teil unserer Kultur seinen Reichtum nach der Auslöschung durch den Holocaust in Deutschland und großen Teilen Europas neu entfalten kann.
3. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass in den vergangenen Jahrzehnten eine Vielzahl neuer jüdischer Gemeinden in Deutschland entstanden sind. Dies ist Ausdruck des Vertrauens in unsere Demokratie und in die jungen Generationen. Das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden ist eine Bereicherung für unser Land. Deutsche Juden sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft.
Der Deutsche Bundestag unterstützt alle Bemühungen, die dazu beitragen, dass jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen sind und hier ihre Heimat gefunden haben, sich in ihrer Entscheidung bestätigt fühlen können. Hierzu gehört, die jüdischen Gemeinden in Deutschland bei der Aufgabe, jüdische Zuwanderer zu integrieren, nicht alleine zu lassen, sondern ihnen hierbei zur Seite zu stehen.
4. Der Deutsche Bundestag verurteilt Antisemitismus gleich welcher Ausprägung.
Er ist insbesondere besorgt über die in den vergangenen Jahren gestiegene Zahl von antisemitischen Straftaten und Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen in Deutschland.
So wurden im Jahr 2001 1.629 antisemitisch motivierte Straftaten registriert. Über 70 Straftaten richteten sich im Jahr 2001 gegen jüdische Einrichtungen.
Es muss alles getan werden, solche schändlichen Taten rasch aufzuklären, die Täter zu bestrafen sowie weiteren Taten wirksam vorzubeugen. Wir werden dafür sorgen, dass Juden in Deutschland sicher leben können. Sie haben, wie alle Bürgerinnen und Bürger, Anspruch auf ein Leben ohne Angst. Dass jüdische Einrichtungen in Deutschland einer besonderen Sicherheitsgefährdung unterliegen, ist eine Tatsache, die wir überwinden wollen.
5. Der Deutsche Bundestag verurteilt alle Versuche, das antisemitische Argument, die Juden seien schuld am Antisemitismus, wiederaufleben zu lassen. Wer so argumentiert, beleidigt zum einen jüdische Bürgerinnen und Bürger und verharmlost zum anderen Vorurteile und Ressentiments. Antisemitismus kann man nicht begründen, sondern nur verachten.
Das Ziel deutscher Politik ist die Bekämpfung und Ächtung von Antisemitismus. Demokratischen Parteien und Politikern kommt hier eine besondere Verantwortung zu, den Anfängen zu wehren. Der Deutsche Bundestag fordert die demokratischen Parteien in Deutschland auf, Wahlkämpfe nicht auf dem Rücken von Menschen jüdischen Glaubens zu führen.
6. Antisemitismus in Deutschland ist eine Realität, die wir niemals als Normalität betrachten werden, sondern überwinden wollen.
Mehr Zivilcourage im Alltag trägt zu einem Klima der Ächtung menschenfeindlicher Äußerungen und Taten bei. Noch mehr als bisher muss Akten des Hasses gegenüber jüdischen Menschen, jüdischen Gemeindezentren und jüdischen Friedhöfen mit Zivilcourage entschieden entgegengetreten werden.
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten gilt es durch deutlichen Protest und entschiedenes Eintreten für einen zivilisierten, der Demokratie gemäßen Umgang miteinander zu überwinden. Freiheitsfeindlicher Extremismus und Antisemitismus in Wort und Tat darf in Deutschland ebenso wenig geduldet werden wie jede Form von Gewalt.
7. Rund 95.000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens leben in Deutschland. Sie sind Teil unseres Gemeinwesens.
Das Gespräch zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften leistet einen wertvollen Beitrag dazu, dass aus Ablehnung und Vorurteilen Toleranz, Achtung und Wertschätzung werden können.
Der Deutsche Bundestag wird alle Maßnahmen und Aktivitäten unterstützen, die dazu beitragen, Respekt und gegenseitiges Verständnis zu fördern. Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Herkunft muss in unserer Gesellschaft als selbstverständlich gelten. Es ist Ausdruck einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft.
Als wichtiger Beitrag dafür soll die Arbeit von Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus und von jüdischen Museen, die die Tradition jüdischen Lebens in Deutschland darstellen, weiter gefördert werden.
Es ist zu begrüßen, dass an zwölf deutschen Hochschulen Judaistik, jüdische Geschichte und Kultur bzw. jiddische Kultur, Sprache und Literatur studiert werden können.
8. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land will ein friedliches Zusammenleben und ist solidarisch mit den jüdischen Gemeinden. Angriffe gegen Juden und auf ihre Gemeinden sind ein Angriff gegen uns alle und müssen mit Nachdruck zurückgewiesen sowie mit allen Mitteln des demokratischen Rechtsstaates bekämpft werden.
Das gebietet die Achtung vor der Würde aller Menschen, wie sie als Ziel von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes in unserer Verfassung verankert wurde.
Ob jüdische Bürger und Bürgerinnen sich in Deutschland respektiert, sicher und frei fühlen können, ist zentraler Maßstab der Verwirklichung dieses Verfassungsauftrages und des Gelingens unserer Demokratie.
Berlin, den 4. Juni 2002
Dr. Peter Struck und Fraktion
Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und Fraktion