Reiner Bernstein
"Judensau" - Ikonographien
zur Gestalt der mittelalterlichen Demütigung mit aktuellen Folgen
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Teil 1:
Persönlich bin ich erstmals im Jahr 2001 auf ein "Judensau“-Relief gestoßen. Damals hatte ich Wolfram P. Kastner zu einer Tagung nach Köln eingeladen, und seine Idee war es, nicht nur im geschlossenen Raum vor einem bereits sensibilisierten Publikum seine Thesen zum Thema antijüdischer Schandbilder vorzutragen. Vielmehr zog er mit uns am frühen Vormittag auf die Domplatte am Hauptbahnhof, um Stimmen von Besucherinnen und Besuchern auf die Frage einzufangen, ob ihnen die seit dem frühen 14. Jahrhundert im Chorgestühl den Augen der Öffentlichkeit versteckte "Judensau“-Darstellung in Verbindung mit der Ritualmord-Anklage bekannt sei und was sie davon hielten. Eine spätere Einritzung in der Randleiste, so haben Stefan Rohrbacher und Michael Schmitz ausgeführt, erkläre eindeutig, dass es sich bei dem am rechten Rand erkennbaren Knaben um Werner von Oberwesel handele, einen angeblich von Juden rituell umgebrachten "Märtyrer“.
Die Antworten des Publikums fielen unterschiedlich aus. Die schlichtesten Besucher von ihnen zeigten sich uninteressiert und drehten ab. Andere hörten aufmerksam zu, ohne sich im einzelnen zu äußern, dritte ließen ihrer Empörung über die fortwährende, ihrer Kenntnis bisher verborgen gebliebene Niedertracht freien Lauf, die sich die kirchlichen Würdenträger wohl in der Hoffnung leisten würden, dass das obszöne Relief dem Interesse des Publikums entzogen bleibe. Den Höhepunkt der Umfrage bildete jedoch die Antwort einer älteren Dame: "Solange sich die Juden nicht für die Ermordung unseres Herrn Jesus entschuldigen, so lange habe ich keine Veranlassung, mich von dem Bildnis im Dom zu distanzieren.“ Gleichsam in kirchenamtlicher Begleitung verfügte die Dombaumeisterin die vorübergehende Schließung des Hauptportals, um vermeintlich unliebsame Störer vom Kirchenraum fernzuhalten. Vom Erkennen des Zusammenhangs zwischen religiöser Diffamierung, sozialer Ächtung und physischer Vernichtung der Juden war keine Spur zu entdecken.
Unsere Nachforschungen ergaben, dass sich weder im Kölner Domführer noch in den einschlägigen Veröffentlichungen ein Hinweis auf die "Judensau“ befand; mittlerweile weist zumindest die Homepage des Kölner Doms das Relief in Bild und Text aus. Dass Köln kein trauriger Einzelfall ist, macht das theologische Problem aus, das nach wie vor auf seine Klärung wartet. Der häufig beschworene Prozess der religiösen Umkehr steckt nach wie vor in den Anfängen. Denn das Versäumnis reiht sich in eine konservative Wende in der christlichen Theologie ein, die sich in vielen Gemeinden von den synodalen Erklärungen zur Erneuerung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden seit den achtziger Jahren selbstgefällig absetzt. Es hat den Anschein, als ob kirchliche Voten zum ungekündigten Bund Gottes mit dem jüdischen Volk und dessen bleibende Erwählung, die keineswegs als Sonderrolle unter den Völkern zu verstehen ist, nur dünne Wurzeln geschlagen haben.